Statement Prim.a Univ.-Doz.in Dr.in Elisabeth Fertl, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN); Vorständin der Neurologischen Abteilung am Krankenhaus Rudolfstiftung, Wien
Im Jahr 2035 werden rund drei Millionen Österreicherinnen und Österreicher über 60 Jahre alt sein. Das ist in Hinblick auf die steigende Lebenserwartung erfreulich. Allerdings müssen wir uns aber auch auf die unvermeidlichen Begleiterscheinungen dieser Entwicklung einstellen.
Bereits jetzt muss jede und jeder Dritte zumindest einmal im Leben eine Neurologin oder einen Neurologen konsultieren. In Europa leiden nach den Angaben des European Brain Council 220,7 Millionen Menschen, das entspricht der gemeinsamen Einwohnerzahl von Deutschland, Frankreich und Großbritannien, an zumindest einer neurologischen Erkrankung wie zum Beispiel Epilepsie, Multipler Sklerose oder Migräne. Damit liegt die Erkrankungsprävalenz höher als jene durch Atemwegserkrankungen, gastrointestinale Störungen oder Krebs.
All dies weist eine steigende Tendenz auf: Denn das Risiko für eine ganze Reihe von verbreiteten neurologischen Erkrankungen wie Demenz, Morbus Parkinson oder Schlaganfall steigt mit dem Alter an. Und die Altersgruppe der Über-60jährigen wächst nicht nur bei uns, sondern weltweit. Stellen die über 60jährigen heute mit 800 Millionen noch 12 Prozent der Weltbevölkerung, werden es im Jahr 2050 bereits 21 Prozent, also mehr als zwei Milliarden Menschen sein. Damit kommen enorme Herausforderungen auf die neurogeriatrische Versorgung und die Sozialsysteme zu.
Versorgung in Österreich vorbildhaft
Zum Glück ist Österreich, was das neurologische Versorgungsnetz betrifft, auch im internationalen Vergleich hervorragend aufgestellt. In Europa ist die Dichte an Neurologinnen und Neurologen im Verhältnis zur Bevölkerung je nach Land höchst unterschiedlich. In Österreich stehen insgesamt 970 Fachärztinnen und Fachärzte der Neurologie bzw. Fachärztinnen und Fachärzte für Neurologie/Psychiatrie zur Verfügung. Weniger als die Hälfte, nämlich 441 Neurologinnen und Neurologen, sind im niedergelassenen Bereich in Ordinationen tätig, davon allerdings nur 144 mit Kassenvertrag.
38 neurologische Akutabteilungen, alle auch mit Stroke Unit und für neurologische Notfälle jederzeit verfügbar, stellen die stationäre Versorgung sicher. Dazu kommen ein zunehmend dichteres Netz an neurologischen Rehabilitationszentren und auch andere Spezialeinrichtungen für die Nachsorge von Menschen mit chronischen Erkrankungen des Nervensystems.
Neue Herausforderungen
Das Beispiel der Schlaganfallbehandlung zeigt uns, dass wir dieses hervorragende Versorgungsangebot aber auch immer wieder den aktuellen Entwicklungen und Anforderungen anpassen müssen – eine in Zeiten knapper Ressourcen wahrliche „Herkules-Aufgabe“.
Österreich hat ein auch im internationalen Maßstab vorbildliches Netz von spezialisierten Schlaganfall-Überwachungs-Einheiten (Stroke Units). Wie auch internationale Studien zeigen, verbessern diese Spezialeinrichtungen die Versorgungsqualität enorm. Nun gibt es in der Schlaganfall-Therapie neben der intravenösen Thrombolyse, also der medikamentösen Auflösung von Gerinnseln, einen weiteren wichtigen Fortschritt, nämlich die Kombination von systemischer Thrombolyse plus mechanischer Gerinnsel-Entfernung (endovaskuläre Thrombektomie), bei der mittels Katheter der Thrombus aus dem Blutgefäß herausgezogen wird.
Bei zehn bis 15 Prozent aller Fälle, wenn ein großes Hirngefäß durch ein sehr langes Gerinnsel verstopft ist, funktioniert die Thrombolyse oft nur bedingt. Das betrifft in Österreich immerhin 2.000 Menschen jährlich. Mit der Kombination von Thrombektomie und Thrombolyse haben wir jetzt eine wirksame und sichere Methode zur Behandlung solcher Großgefäßverschlüssen zur Verfügung.
Die Überlegenheit der Thrombektomie bei ausgewählten Patientengruppen gegenüber der medikamentösen Standard-Therapie wurde jüngst in mehreren Studien und schließlich auch einer Meta-Analyse aller aktuellen Studien überzeugend belegt. Mehr als 60 Prozent der Behandelten überstehen den Schlaganfall aufgrund eines solchen Eingriffs ohne oder mit nur geringer Behinderung. Mittlerweile haben die relevanten europäischen Fachgesellschaften eine gemeinsame Therapieempfehlung dazu veröffentlicht, die auch von den zuständigen österreichischen Gesellschaften übernommen wurde.
Die erfolgreiche Durchführung von Thrombektomien stellt besondere organisatorische und personelle Anforderungen, vom Zeitfenster, in dem der Eingriff stattfinden muss, über die Wahl der geeigneten Instrumente und den richtigen Einsatz bildgebender Verfahren bis hin zur Nachsorge. Bislang können wir diese Methode an elf Stroke-Units mit Interventionsmöglichkeit anbieten. Es werden also weitere Anstrengungen nötig sein, um diese zusätzliche spitzenmedizinische Leistung flächendeckend in ganz Österreich, rund um die Uhr, sicherstellen zu können. Unter den bekannt schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen wird es nicht ganz einfach sein, diese Ressourcen zu schaffen. Letztlich muss sich die Gesellschaft hier der Frage stellen, ob sie sich eine optimale medizinische Versorgung, insbesondere auch ihrer älteren Mitglieder, leisten will.
Motivation für den Neurologennachwuchs
Handlungsbedarf gibt es, um eine gute neurologische Versorgung auch für die Zukunft sicherzustellen. Viele Neurologinnen und Neurologen werden in den kommenden zehn Jahren in Pension gehen. Es droht also eine Situation, in der weniger Fachärzte eine immer größer werdende Klientel betreuen müssen. Wir haben uns daher vorgenommen, die nachrückende Ärztegeneration verstärkt für unser interessantes und vielfältiges Fach zu begeistern. Unter anderem werden wir mit einer Informationsoffensive unter dem Motto „Neurologie – mein Fach!“ bereits Medizinstudenten ansprechen, um sie für eine neurologische Facharztausbildung motivieren. Das Vorbild jeder Neurologin und jedes Neurologen wird für die Berufswahl des Nachwuchses ebenso entscheidend sein.
Ressourcensparend und sicher
In manchen gesundheitspolitischen Diskussionen gewinnt man den Eindruck, dass in einer nicht allzu fernen Zukunft Patientinnen und Patienten einfach durch den Scanner geschickt oder Krankheiten mit Internetalgorithmen diagnostizierbar sein werden. Dem ist entgegenzuhalten, dass gerade gut ausgebildete Fachärztinnen und -ärzte für Neurologie viel an Ressourcen sparen und gleichzeitig die Patientensicherheit gewährleisten: Wir können mit rein klinischen Methoden (Anamnese, neurologische Untersuchung) 80 bis 90 Prozent aller Probleme abklären. Diese Rolle der fachspezifischen menschlichen Hinwendung zum Patienten wird besonders in der älter werdenden Gesellschaft des 21. Jahrhunderts unersetzbar bleiben.
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