Statement Prim. Priv.-Doz. Dr. Tim von Oertzen, Kongresspräsident; Vorstand der Klinik für Neurologie 1, Neuromed Campus, Kepler Universitätsklinikum Linz
Ich freue mich, dass ich Sie als Präsident unserer diesjährigen Tagung im Vorfeld begrüßen darf. Umso mehr, als wir heuer einen besonders breiten Bogen an für die Neurologie – aber auch für die Gesellschaft – relevanter Themen spannen werden. So werden wir uns unter anderem dem wichtigen Thema Epilepsie, aber auch den Orphan Diseases oder Seltenen Erkrankungen widmen, bei denen es etliche bemerkenswerte Fortschritte gibt, die uns zunehmend auch die Behandlung dieser „Waisenkinder“ der Medizin ermöglichen. Darüber hinaus werden wir auch Neuigkeiten in der Akutneurologie und die vielversprechenden Entwicklungen in der Neuroonkologie präsentieren. Zu letzteren wird Ihnen Frau Dr. Wagner Näheres erläutern.
Gerade wegen der von ÖGN-Präsidentin Primaria Fertl angesprochenen Probleme im Ausbildungsbereich, die langfristig zu einem dramatischen Verlust an Know-how und einer signifikanten Verschlechterung der Versorgungslage führen könnten, haben wir uns entschlossen, den diesjährigen Kongress sehr offen zu gestalten: Um auch Allgemeinmediziner und vor allem die nächste Ärztegeneration über die laufenden Fortschritte unseres Fachgebietes zu informieren, wird es am Kongress diesmal auch zahlreiche Veranstaltungen für Nicht-Neurologen und spezielle Angebote für Jungmediziner geben.
Schwerpunkt Epilepsie: 60.000 Menschen in Österreich betroffen
Wie wichtig es ist, dass Mediziner aller Fachrichtungen zumindest über Grundkenntnisse der Neurologie verfügen, werden Sie gleich am Beispiel der Epilepsie sehen. Diese Funktionsstörung des Gehirns wird häufig immer noch zu Unrecht als seltene Erkrankung angesehen. Tatsächlich aber sind in Österreich 0,8 Prozent der Gesamtbevölkerung betroffen, also mehr als 60.000 Menschen. Und wenn jährlich 0,05 Prozent Neuerkrankungen dazu kommen, heißt das, dass hierzulande alle zwei Stunden ein Mensch an Epilepsie erkrankt.
Dass wir dieses Thema heuer besonders intensiv behandeln wollen, hat vor allem den Grund, dass sich in diesem Teilbereich der Neurologie eine zunehmende Kluft zwischen Patientenbedürfnissen und medizinischen Möglichkeiten auf der einen Seite und der Behandlungsrealität auf der anderen Seite auftut.
Fortschritte in der Pharmakotherapie: 7 von 10 Patienten könnten anfallsfrei sein
Die gute Nachricht ist: Mit den Errungenschaften der letzten Jahre sind wir heute in der Lage, der überwiegenden Mehrheit der Patientinnen und Patienten wirkungsvoll zu helfen. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden zahlreiche Medikamente eingeführt, mit denen wir bei sieben von zehn Betroffenen für vollständige Anfallsfreiheit sorgen können – und das mittlerweile in den meisten Fällen ohne gravierende Nebenwirkungen.
Soweit die auch von zahlreichen Studien gestützte Theorie. Allerdings, und hier beginnt sich die vorhin angesprochene Diskrepanz zu zeigen, wissen wir nicht, ob und wie weit diese neuen Möglichkeiten auch bei den Betroffenen ankommen. In Österreich gibt es dazu keine verlässlichen Zahlen, weil es kein eigenes Register gibt. Wenn wir ersatzweise Daten aus Großbritannien heranziehen, sehen wir aber, dass dort bislang erst maximal 50 Prozent der Menschen mit Epilepsie von den neuen therapeutischen Möglichkeiten profitieren.
Möglichkeiten der Gehirnchirurgie noch zu wenig genutzt
Noch evidenter klafft die Lücke zwischen dem Machbaren und dem, was gemacht wird, bei jenen Patienten auseinander, die auf die verfügbaren Epilepsie-Medikamente leider nicht ansprechen. Das ist rund ein Drittel aller Betroffenen, denen wir bis vor wenigen Jahren kaum helfen konnten. Dank der technischen Fortschritte sowohl auf dem Gebiet der bildgebenden Diagnostik als auch auf dem Gebiet der Neurochirurgie kann ein Teil solcher Patienten heute aber mit immer besserer Langzeit-Effektivität operiert werden.
Wie eine vor Kurzem im New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie mit 9.523 Patientinnen und Patienten zeigt, sind die Ergebnisse überragend: 58 Prozent der Erwachsenen waren ein Jahr nach einem solchen Eingriff vollständig anfallsfrei. Wenn der Epilepsie ein gutartiger Tumor zugrunde lag, waren es sogar 63,5 Prozent. Bei Kindern lag die Erfolgsrate bei 65 Prozent.
Leider wird diese Möglichkeit noch viel zu wenig genutzt. Und wenn, dann häufig viel zu spät: Wie die Studie zeigt auch unsere tägliche Praxis an der neuen medizinischen Fakultät in Linz, wo wir einen eigenen Forschungsschwerpunkt Epilepsie eingerichtet haben, dass die Betroffenen durchschnittlich erst 16 Jahre nach der Erstdiagnose zur Operation kommen. Dabei müsste in jedem dieser Fälle nach spätestens drei bis fünf Jahren erkennbar gewesen sein, dass es sich um Patienten handelt, die auf Medikamente nicht ansprechen.
Appell zur Schließung der Versorgungslücken
Diese eklatante Lücke in der Versorgung müssen wir dringend schließen und dafür sorgen, dass solche pharmakoresistenten Patientinnen und Patienten möglichst frühzeitig in ein spezialisiertes Zentrum überwiesen werden. Das würde nicht nur den Betroffenen Jahre mit einem sehr belastenden Leiden und kognitive Verschlechterungen ersparen, sondern auch erhebliche Entlastungen für die Volkswirtschaften bringen.
Zu diesem Schluss kommt auch eine Studie des European Brain Councils, das die Versorgungsrealitäten neurologischer Erkrankungen untersucht hat. Die zwei wesentlichsten Ergebnisse sollten uns zu denken geben: Erstens liegen die Behandlungserfolge deutlich unter dem, was möglich wäre, wenn alle Leitlinienempfehlungen eingehalten würden. Und zweitens liegen die unvermeidlichen Folgekosten dieser Unterversorgung deutlich höher, als für eine lückenlose Versorgung aufzubringen wäre. Kurz gesagt: Wir nehmen schlechtere Behandlungsergebnisse zu höheren Kosten in Kauf.
Epilepsie im Alter stellt besondere Herausforderungen an die Versorgung
Dass es weitere Anstrengungen nicht nur in unserem eigenen Fachgebiet, sondern weit darüber hinaus brauchen wird, zeigt sich auch am Beispiel der Alters-Epilepsie. Anders als oft angenommen, treten die meisten Epilepsien erst im Erwachsenenalter auf. Allerdings präsentiert sich die Krankheit bei älteren Patienten oft diffuser als bei jüngeren oder mittelalten Erwachsenen und äußert sich nicht zwangsläufig mit der typischen Aura oder augenfälligen Anfällen. Typisch sind Verwirrtheitszustände, die allerdings oft einer Demenzerkrankung oder einem vorhergehenden Schlaganfall zugeschrieben werden.
Um solche Fälle erkennen und adäquat behandeln zu können, braucht es eine sorgfältige neurologische Diagnostik mit vielen EEGs. Voraussetzung dafür ist aber, dass diese Patienten überhaupt den Zugang zur Neurologie finden. Das ist der Grund für meine eingangs geäußerten Sorgen: Damit Allgemeinmediziner und Kolleginnen und Kollegen anderer Fachrichtungen solche diffusen Symptome erkennen und richtig einordnen können, braucht es ein breit gestreutes neurologisches Grundwissen quer durch die Medizin.
Quelle: Blumcke et at, Histopathological Findings in Brain Tissue Obtained during Epilepsy SurgeryN Engl J Med 2017;377:1648-56.DOI: 10.1056/NEJMoa1703784
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