Auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) fand das 1. interdisziplinäre Konsensus-Treffen zum Thema „Postvirale Zustandsbilder“ unter Berücksichtigung der Einordnung von „Myalgischer Encephalomyelitis/chronischem Fatigue Syndrom“ (ME/CFS) statt.
Das Bestreben der ÖGN war es, anhand von strukturierten Stellungnahmen von Expert*innen aus den Bereichen Neuroinfektiologie, Neuroimmunologie, autonomer Dysfunktion, Schmerz, Psychiatrie und Psychotherapie, Allgemeinmedizin, Allergologie & Immunologie, Innerer Medizin und Public Health eine aktuelle und evidenzbasierte Standortbestimmung im Sinne eines Konsensus Statements zu Genese, Diagnose, sowie Therapiemöglichkeiten bei (möglichen) postviralen Zustandsbildern zu erreichen. Wesentlich war es der ÖGN dabei, auch Vertreter*innen der Betroffenen aktiv in den gesamten Prozess einzubeziehen, um deren Perspektiven, Anliegen und Bedürfnisse zu erfahren. Zudem waren die Gesundheitssprecher*innen sämtlicher im Parlament vertretener politischer Parteien und Repräsentant*innen der österreichischen Gesundheitskasse und der Pensionsversicherungsanstalt zu einer abschließenden Diskussionsrunde eingeladen. Damit wurden erstmals in Österreich maßgebliche Interessensgruppen inklusive Betroffener und deren Vertreter in ein derartiges Treffen involviert.
Eröffnet und moderiert wurde vom Präsidenten der ÖGN, (Univ.-Prof. Dr.) Christian Enzinger. In seiner Einleitung erklärte er, dass der Grund für diese Konferenz sehr einfach zusammengefasst sei: „Sie ist notwendig.“
In seinem Beitrag zur Begriffsbestimmung stellte Thomas Berger aus Sicht der Neuroimmunologie klar, dass es keine wissenschaftliche Evidenz gebe, dass ME/CFS eine tatsächliche neuroimmunologische Erkrankung sei. Somit sei auch die Bezeichnung „Myalgische Encephalomyelitis“ überholt und am plausibelsten in die Gruppe der „Postinfektiösen Zustände“ einzuordnen, also den Folgezuständen nach (viralen) Infektionen. Die bislang fehlende wissenschaftliche Evidenz zur Ursache, Entstehung und Therapie des MS/CSF sei auch dem Umstand geschuldet, dass die diagnostischen Kriterien veraltet, unspezifisch und anfällig für Fehldiagnosen seien. Eine sichere und unzweifelhafte Diagnose nach modernen wissenschaftlichen Kriterien und internationalen Standards sei die ultimative Voraussetzung und Gewährleistung für Betroffene, dass sie mit den bestmöglichen individuellen symptomatischen Therapien zur Linderung und Besserung ihrer Beschwerden behandelt würden.
Jörg Weber schilderte aus der Perspektive der Neuroinfektiologie bekannte postvirale Zustandsbilder in der Neurologie und betonte die Wichtigkeit, die Pathophysiologie zu verstehen, um daraus gezielte Therapieansätze zu erarbeiten.
Die Sichtweise der Betroffenen wurde dargestellt von Joachim Hermisson als Vater einer Betroffenen und als Vertreter der We & Me Foundation. Die Unwissenheit und die mangelnde Unterscheidung von ME/CSF zu chronischer Müdigkeit seien nur Teile der Hilflosigkeit. So gebe es „unsichtbare“ Patienten, die komplett hilflos und pflegebedürftig seien. Diagnosemöglichkeiten zu schaffen sei das Ziel. Gemeinsame Ziele sollten sein: Flächendeckende sekundäre Kompetenzzentren: Rigorose Diagnostik, therapeutische Ansätze, klinische Studien.
Michael Ströck ergänzte als Bruder von zwei Betroffenen und als Stifter der We&Me Foundation, dass es zu wenig Forschung zu ME/CSF -auch aufgrund von zu wenig finanzieller Unterstützung- gebe. Er forderte mehr öffentliche Unterstützung und wiederholte die Forderung nach flächendeckenden Kompetenzzentren. Er sehe viele gute Bemühungen und sei dankbar für die wachsende Unterstützung aus den verschiedenen Fachbereichen.
Erkrankungen des autonomen Nervensystems als Folge viraler Infektionen sind seit langem bekannt, wie der Neurologe Walter Struhal ausführte. Autonome Zentren arbeiteten immer multidisziplinär mit anderen Fachdisziplinen wie Kardiologie, Psychiatrie, Gastroenterologie, Urologie und anderen. Wie bei vielen chronischen neurologischen Erkrankungen stehe die individualisierte patientenzentrierte Behandlung der Beschwerden im Vordergrund, um die Lebensqualität zu verbessern.
Eine Perspektive des niedergelassenen Facharztes mit entsprechendem Schwerpunkt kam von Michael Stingl, welcher auch als Beirat für die We&Me Foundation fungiert. Wichtig bei ME/CFS sei die klare Unterscheidung von Fatigue, die als Symptom bei vielen Erkrankungen vorkommen könne, mit der für ME/CFS typischen Post Exertional Malaise, wo es durch oft banale Belastung zu einer wesentlichen Verschlechterung des Zustandes über Tage komme. Durch aktuell noch fehlende Aus- und Fortbildung werde diese Differenzierung in der klinischen Praxis oft nicht gemacht, wodurch es für Betroffene zu belastenden Erfahrungen im Gesundheitswesen komme. Eine Differentialdiagnostik sei wichtig, eine aktive Diagnose von ME/CFS inklusive der möglichen Komorbiditäten trotz aller offenen Fragen möglich. Wichtig seien Anlaufstellen für die Betroffenen, da die Versorgung momentan absolut inadäquat sei.
Die Perspektive der Psychiatrie kam von Martin Aigner. Das Bio-psycho-soziale Modell sei seit langem die Grundlage für die Psychiatrie. Auch beim Long-Covid-Syndrom könnten psychische Komorbiditätszahlen gefunden werden. Als Differentialdiagnose bzw. als Komorbidität kämen aus psychiatrischer Sicht vor allem Angststörungen, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörung und funktionelle Körperbeschwerden, Körperbelastungsstörungen und Schlafstörungen in Frage. Therapeutisch erscheine eine evidenzbasierte multimodale Therapie mit Medikation, Entspannungsverfahren, Psychoedukation, kognitiver Verhaltenstherapie, Physiotherapie, Ergotherapie sinnvoll, bis zum Nachweis spezifischer Therapien für bestimmte Subgruppen.
Die Allgemeinmedizinerin Susanne Rabady pochte auf die Hilfe von Betroffenen. Ein einzelnes Kompetenzzentrum könne der Forschung helfen und sei wichtig, aber bringe noch keine Versorgung in der Breite. Ihren Fokus legte sie auf Prävention, Diagnostik, therapeutische Zugänge und Begleitung aus Sicht der Hausärzte. Allgemeinmedizinisch sei die umfassende Differenzialdiagnostik bereits sehr wichtig, bei der Therapie gebe es die Herausforderung, dass es kaum Evidenzen gebe. Bei der Begleitung sei auch wichtig, Patienten die Angst zu nehmen. Es gebe noch viel zu tun, der Zugang zu spezialisiertem Wissen sei wichtig, eine spezielle interprofessionelle Ausbildungsmöglichkeit gehöre dazu. Eine multidisziplinäre Untersuchung und Abklärung könne helfen, den Patienten zu helfen und mehr über ME/CFS herauszufinden.
Alexander Rosenkranz repräsentierte den Bereich Innere Medizin. Post/Viral/Long Covid seien heterogene Krankheitsbilder ohne bewiesene Kausalität. Für die Entstehung gebe es unterschiedliche Erklärungen, am ehesten Endothelschädigung, Autoimmunität bzw. Neoantigen. Die Häufigkeit variiere und werde bei aufrechterhaltender Herdenimmunität stark abnehmen.
Eva Untersmayr-Elsenhuber als Vertreterin der Immunologie betonte, dass die Schwere einer Akuterkrankung nicht relevant sei für die Entstehung einer postinfektiösen Erkrankung. Bei ME/CFS Patienten würden gewisse Immundefekte überdurchschnittlich hoch repräsentiert sein. Eine Einteilung der Patienten in gewisse Gruppen sei für eine bessere und zielgerichtete Behandlung essenziell. Forschungsgelder seien kaum vorhanden, wären aber wichtig und sollten ausgebaut werden.
Aus dem Bereich der Schmerzmedizin berichtete Thomas Weber, dass das Wichtigste ein multimodaler Ansatz in der Anamnese sei, um eine erfolgreiche individualisierte Therapieplanung etablieren zu können. Dafür brauche es spezialisierte Zentren unter Einbeziehung verschiedener Fachgruppen, diese gebe es in Österreich derzeit aber leider nicht. Es müsse in Forschung für experimentelle Therapieansätze investiert werden.
In seinem Abschlussstatement zeigte sich Christian Enzinger, Präsident der ÖGN, mit dem Verlauf des Treffens hochgradig zufrieden. Klar geworden sei allerdings auch, dass nun ein Statement verschriftlicht werden müsse, dass Gebiete der Übereinstimmung, aber auch der Unklarheit und des Dissens festhält. Damit sollen einerseits Felder mit weiterem Forschungsbedarf definiert und andererseits Handlungsbedarfe für Entscheidungsträger*innen in Politik und im Gesundheitswesen aufgezeigt werden, um die Versorgung Betroffener zu optimieren.
Weitere Teilnehmer*innen an der Diskussion waren Rudolf Silvan (SPÖ), Josef Smolle (ÖVP), Günter Koderhold (FPÖ), Stefan Gara (NEOS) und Barbara Huemer (Die Grünen) sowie Valerie Nell-Duxneuner (ÖGK), Arschang Valipour (Stadt Wien/Klink Floridsdorf), Miroslav Krstic (PVA) und Kevin Thonhofer (Vertreter der Betroffenen – Österr. Gesellchaft für ME/CFS).